Eine Klippe wird Linda zum Verhängnis. Gerade noch hat die Vierzehnjährige mit ihrer Freundin Eta hier gescherzt, über Jungs gesprochen, übers Knutschen. Dann ein Streit. Mädchenthema, Zickenkrieg, emotionale Verwirrung. Linda schubst. Eta fällt.

Kroatien nach dem Krieg. Das malerische Dubrovnik, heute Touristenort am Meer, ist Zuflucht von Flüchtlingen, vermintes Gebiet, in dessen Luft noch die Schallwellen der Granateneinschläge an der Bosnischen Grenze verhallen und neuer Wohnort von Linda (Sylvie Marinković). Ihr Vater, ein kroatischer Arzt, hat sie aus der Schweiz hier hergebracht, fernab ihrer Mutter, ihrer Freundinnen und ihrer Sprache. In ihrer Klassenkameradin Eta (Lucia Radulović) glaubt sie eine Verbündete in der neuen Welt gefunden zu haben.

Aber das Unglück ändert alles. Nein, Schuld gibt ihr keiner. Aber in Ruhe lässt die Tote sie nicht. Eta war immer schon die Abenteurerin, die, die ältere Jungs hatte, die im Modeladen klaute. Die, die freche, anzügliche Sprüche draufhatte für die Erwachsenen und auch gelegentlich für Linda. In Etas Tagebuch findet Linda den Schlüssel zu geheimen Gedanken und Leidenschaften der ihrer Freundin. Eine Welt, die ihr bisher fremd war, aber doch verführerisch scheint: die Welt des Erwachsenwerdens, das Austesten von Grenzen und die Entdeckung des Selbst.

Linda lernt aber noch eine andere Seite Die Großmutter der Getöteten, eine verwirrte Frau, sieht plötzlich in ihr die verschwundene Enkelin. Sie liebt sie, herrscht sie an, schenkt ihr Pralinen und lässt sie die Untertitel im Fernsehen vorlesen. Ganz so, wie sie es immer mit Eta gemacht hat. Es entwickelt sich eine seltsame Dreiecksbeziehung zwischen Linda, Etas Mutter und der alten Frau. Linda bekommt Einblick in das Leben der Menschen, die noch unter den Kriegsfolgen leiden, ein Einblick in die osteuropäische Familientradition, die der gebürtigen Schweizerin bisher so fremd ist. Linda, zumindest aber dem Zuschauer wird klar, warum Eta so war, wie sie war: rebellisch, wild, unberechenbar. Es war eine Auflehnung gegen die Zwänge, denen sie in ihrer Familie unterlag. Linda taucht ein in das Leben ihrer Freundin, wird fast eins mit der Toten, die sie immer noch in ihren Gedanken verfolgt. Das Schicksal treibt sie in ein perfides Doppelleben, bis sie schließlich selbst nicht mehr weiß, wer sie eigentlich ist.

Der Film ist Drama, Mystery, Coming-of-age, ein bisschen Thriller vielleicht. Er ist aber vor allem die Geschichte einer Selbstfindung. Eine Geschichte, die zutiefst menschlich ist und die jeden trifft und betrifft, der einmal jung war. Die Frage nach dem Selbst, die Frage nach dem “Wer bin ich?”, die Frage nach der Abgrenzung von anderen und dem immer wiederkehrenden Versuch, den Menschen nachzueifern, für die man eine seltsame Bewunderung verspürt. Es sind Themen wie Coolness, Reife und die Entwicklung zwischengeschlechtlicher Beziehungen, die der Film anspricht. Dabei ist er erfreulich subtil und erzählt die Geschichte über Lindas Doppelrolle und in Andeutungen, die nur manchmal durch die Stimme der toten Eta aus dem Off (unnötigerweise) auf den Punkt gebracht werden.

Einzig der Soundtrack von Milica Paranosić kann nicht so recht die nachdenkliche, zerrissene Stimmung vermitteln, in der sich der Film bewegt. Der ruhige Score im Stil von Only Lovers Left Alive ist eine Spur zu einfallslos und an manchen Stellen klanglich zu aggressiv. Ein schöner Versuch, der leider nicht ganz funktioniert hat.

Cure erzählt eindringlich die Geschichte einer Jugend. Die Kriminalgeschichte wird dabei zur Nebensache, der sich der Film einzig für den Spannungsbogen bedient. Was Linda bewegt, ist nicht ihr Verbrechen. Es sind die essentiellen Fragen, die wir uns immer gestellt haben. Und die wir uns manchmal noch heute stellen.

Man kommt nicht umhin, der Regisseurin ein bisschen Vergangenheitsbewältigung zu unterstellen, ist sie doch selbst in der Schweiz als Kind kroatisch-bosnischer Eltern aufgewachsen. Verlorene Heimat und starke Schicksale sind immer wieder Thema in Andrea Štakas Filmen. Ob nun persönliche Note oder nur solide Regiearbeit für das Ergebnis verantwortlich sind, ist egal, zumindest solange ein so sehenswertes Ergebnis dabei herauskommt.

Dramaturgie: +
Sex: +
Bilder: o
Story: o
Musik: o
Schauspiel: +
Durchblick: o

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